Von MCD zu ADHS – ein kurzer historischer Abriss der ADHS

Es gibt nicht viele Krankheitsbilder, die in der Medizingeschichte eine vergleichbar heftige Kontroverse ausgelöst haben wie die Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS). Ein neues Krankheitsbild? Eine „Mode-Diagnose“?

Schon bei den alten Griechen findet man Hinweise auf Kinder, die „in ihrem Temperament zu viel des Elements Feuer“ hatten, und denen der griechische Arzt Gerlen empfahl, Opium zur Beruhigung anzuwenden. Auch bei biblischen Persönlichkeiten finden sich Hinweise auf emotional impulsives Verhalten, so nannte Jesus seinen Lieblingsjünger und dessen Bruder „Donnersöhne“ und auch das Verhalten von Petrus, der emotional impulsiv Jesus „in den Tod folgen“ will, sich der Tragweite seiner Aussage nicht bewusst ist, und sich schließlich selbst verleugnet. Bei bekannten Persönlichkeiten wie Künstler oder Erfinder finden sich wiederum auch deutliche Wesenszüge einer ADHS, hier seien Wolfgang Amadeus Mozart- (1756 – 1791), Ludwig van Beethoven( 1770- 1827), Leonardo Da Vinci(1452-1519) und Thomas Alva Edison(1847 – 1931) genannt.

Sir Alexander Crichton beschrieb im Jahre 1798 in seinem Buch „die Unfähigkeit sich konstant mit einem Objekt zu befassen“. Er vermutete eine „krankhafte Sensibilität der Nerven“. Diese sei vielleicht angeborenen oder „Begleiteffekt einer Krankheit“. Er beobachtete, dass es Menschen mit einem Zustand der Unruhe gibt, die im Zimmer auf und ab gehen, Dinge hin und her schieben, aufgeregt sind, etc.. Mit seinen Beobachtungen der Unruhe und seinen Überlegungen, wie diese zu beeinflussen sei, war Crichton seiner Zeit voraus.

Der Leibarzt von Napoleon I, Dr. Haslam, bezeichnete Napoleon 1808 als ein „moralisch krankes Kind“ und als „Sklave seiner Leidenschaft, Schrecken der Schule, Qual der Familie und Plage seiner Umgebung“.

Später verfasste Heinrich Hoffmann, ein Frankfurter Arzt, die Geschichte des Zappelphilipps, die erstmals im Jahre 1846 veröffentlicht wurde. Häufig wird vermutet, dass Hoffmann selbst unter dem „Zappelphilipp-Syndrom“ gelitten habe oder aber zumindest darauf aufmerksam machen wollte. Dies ist möglich, es kann aber auch sein, dass er mit seinem Buch einfach nur unterhalten wollte, denn zum Zeitpunkt des Schreibens seines Buches war er noch gar kein Nervenarzt. Trotzdem ist die Bezeichnung „Zappelphilipp-Syndrom“ inzwischen zum volkstümlichen Begriff geworden, in den USA wird vom „Fidgety Phil“ gesprochen. In fast allen Darstellungen ist zu lesen, der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann habe 1844 mit der Figur des Zappelphilipps in seinem Kinderbuch „Struwwelpeter“ die Erkrankung bereits in klassischer Weise beschrieben. Dies hatte möglicherweise zur Folge, dass sehr großes Augenmerk auf die motorische Unruhe gelegt wurde, die emotionale Impulsivität, wenig konstante und schnell schwankende Aufmerksamkeit und die leichte Ablenkbarkeit eher weniger stark beachtet wurden.

Der Berliner Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1869) vermutete erstmals 1845, dass das Gehirn als ein „psychisches Organ“ Funktionsstörungen haben könnte und dies als Ursache für „psychische Krankheiten“ in Frage komme. Er führte aus, dass Kinder, die „keinen Augenblick Ruhe halten . . . und gar keine Aufmerksamkeit zeigen“, eine „nervöse Konstitution“ haben und „unter einer gestörten Reaktion des Zentralorgans auf die einwirkenden Reize“ leiden würden.

Weitere Erklärungsversuche lieferten zwei frühe Kinderpsychiater: der Engländer Henry Maudsley (1835–1918) rechnete 1867 die unruhigen Kinder zur Krankheitsgruppe des „affektiven oder moralischen Irreseins“, der Deutsche Hermann Emminghaus (1845–1904) vermutete 1878 „Vererbung und Degeneration“.

1869 brachte der amerikanische Neurologe George Miller Beard (1839–1883) die Bezeichnung „Neurasthenie“ für „Zustände reizbarer Schwäche“ ins Spiel. Später sprach er von einer spezifischen „American nervousness“ wegen der Zunahme von Hektik und Hast im Zuge der industriellen Entwicklung.

Der Leipziger Psychologe Ludwig Strümpell entwickelte 1890 im System einer „Pädagogischen Pathologie“ die „Lehre von den Fehlern der Kinder“. Er beschrieb Unruhe und Unaufmerksamkeit als „konstitutionelle Charakterfehler“ und Unruhe als „moral defect“.

Im Jahre 1902 schilderte der Londoner Pädiater Georg Frederick Still detailliert die Symptome von ADHS an Hand der Studien an 20 Kindern. Diese Beschreibungen der Symptome waren den heutigen Diagnosekriterien schon sehr ähnlich, dazu gehörten extreme Unruhe, ständige Bewegung, mangelnde Fähigkeit konzentriert und ausdauernd bei einer Sache zu bleiben, Leidenschaftlichkeit und mangelnde Willenskontrolle. Diese Kinder würden trotz „intakten Intellekts“ in der Schule versagen. Er beobachtete, dass mehr Jungen als Mädchen betroffen seien. Diese Kinder seien durch Bestrafung nicht zu kontrollieren, die Prognose einer Heilung sei schlecht. Vermutlich resultiere dieser „defect of moral control“ sowohl aus Vererbung als auch aus neurologischen Ursachen, es sei also (auch) ein medizinisches Problem und diese Kinder seien nicht einfach nur „unmoralisch“, „dumm“ oder „unerzogen“.

In den 20er Jahren, als vermehrt Kinder an Enzephalitis erkrankten, wurden ADHS-Symptome dieser Erkrankung zugeordnet und es entstand der Begriff „Post-encephalitische Verhaltensstörung“.

Erstmals 1937 wurden Stimulanzien verwendet, um Kinder, die Anzeichen von ADHS hatten zu behandeln. Dies wurde von dem Forscherehepaar Bradley mit gutem therapeutischen Erfolg durchgeführt, sie konnten die Wirkungsweise der Stimulanzien aber nicht erklären.

Maurice Laufer vermutete 1957 die Ursache in einem Defizit des Zentralnervensystems. Seiner Theorie zufolge filtern die thalamitischen Gehirnregionen zu wenig Stimulation heraus, so dass das Gehirn von Eindrücken überschwemmt wird. Betroffenen Kindern wurden spezielle, reiz- und ablenkungsarme Klassenzimmer zur Verfügung gestellt.

In den 60er und 70er wurde überwiegend angenommen, dass es sich bei ADHS um eine „leichte frühkindliche Hirnschädigung“ handle, es entstanden Begriffe wie „Minimal cerebral Dysfunction“ (MCD) Psychoorganisches Syndrom (POS) vor allem im Schweizer Raum, in Deutschland wurde der Begriff MCD (Minimale cerebrale Dysfunktion) übernommen.

Diese Bezeichnung erwies sich als problematisch, da erkannt wurde, dass viele Kinder ohne Anzeichen von Hirnschädigungen auch Symptome von ADHS zeigten, der Begriff „Brain Damage“ schien also nicht angemessen zu sein.

Gleichzeitig wurde in den 1970er Jahren mehrere Symptome erkannt, die zusammen mit Hyperaktivität auftraten. Dazu gehörten Impulsivität, Mangel an Konzentration, Tagträumen und die fehlende Fokussierung auf eine Aufgabe.

Im Jahr 1954 kam Ritalin in Deutschland auf den Markt und es wurde mit gutem Erfolg eingesetzt, um Kinder zu behandeln die als „hyperaktiv“ galten und der Begriff „hyperkinetisches Syndrom“ wurde geprägt.

Ein Wandel der Beschreibung von ADHS erfolgte In den 70er und 80er Jahren, als angenommen wurde, dass auf Hirnstammebene eine Dysregulation von Botenstoffen, insbesondere Dopamin, vorliegen müsse, und dadurch Reize mangelhaft gefiltert würden. Ein Problem der Selbstregulation mit zu wenig Daueraufmerksamkeit und Anstrengungsbereitschaft beschrieb 1984 Viriginia Douglas und schuf den Namen „Attention Deficit Disorder“, dieser wurde im Jahre 1980 von der American Psychiatric Association festgelegt und 1987 in „Attention Deficit Disorder Hyperactive“ erweitert.

Die American Psychiatric Association postulierte, dass ADHS eine medizinische Diagnose sei und kein rein psychisches Problem, dass aber ADHS zu Verhaltensproblemen führen könne.

Aufgenommen wurde die „Hyperkinetische Reaktion der Kindheit“ 1968 in den DSM-II (1968), obwohl sich die Fachleute dessen bewusst waren, dass viele der diagnostizierten Kinder Aufmerksamkeitsstörungen ohne irgendwelche Anzeichen von Hyperaktivität hatten. Im Jahr 1980 führte das DSM-III den Begriff „ADD“ (Attention-Deficit Disorder) mit oder ohne Hyperaktivität ein. Die Terminologie ADD wurde mit der Revision im Jahr 1987 auf ADHS im DSM-III-R geändert. Im DSM-IV, 1994 veröffentlicht, wurden erstmals ADHS-Subtypen vorgestellt. In Deutschland sind weiterhin die wenig realitätsnahen Kriterien des ICD-X zur Diagnose von ADHS gültig .

Der DSM-V, eine Weiterentwicklung des DSM IV, wird in einem Entwurf voraussichtlich Ende nächsten Jahres erscheinen. In diesem Entwurf wird ADHS als ein „Muster von Verhaltensstörungen und kognitiven Funktionsstörungen“ beschrieben, außerdem werden die verschiedenen Erscheinungsformen von ADHS sowie das Fortbestehen der Symptomatik im Erwachsenenalter mit in die Diagnose einbezogen.

Durch immer bessere bildgebende Verfahren konnte belegt werden, dass im Frontalbereich des Großhirns ein zu geringer Glucose-Stoffwechsel vorherrscht und dass einzelne Hirnbereiche zu viel oder zu wenig durchblutet sind. Auch wurde dokumentiert, dass im Striatum eine zu hohe Dopamintransporter-Dichte vorliegt und dass diese mit der Gabe von Metylphenidat positiv beeinflusst werden kann.

Heute geht man davon aus, dass auf dem Hintergrund einer neurochemischen Problematik Kinder mit ADHS ein Defizit der zentralen Hemmung haben und die Wichtigkeit von wichtigen und unwichtigen Reizen nicht unterscheiden können. Ihre Aufmerksamkeit sowie Konzentrationsfähigkeit und Motivation sind maßgeblich von ihrer gefühlsmäßigen Bewertung der Wahrnehmungen der Sinnesorgane im Mandelkern des Hirnstamms abhängig. Dr. Russel Barkley hat außerdem belegt, dass bei Menschen mit ADHS der Gyrus Cinguli zum einen kleiner ist als bei Menschen die kein ADHS haben, zum anderen schlecht oder gar nicht funktioniert. Als Folge davon gelingt es ihnen nicht in emotionalen oder sozialen Konflikten Entscheidungen zu treffen im Hinblick auf ihr Wohlergehen in der Zukunft, sondern sie bleiben im „Hier und Jetzt“, sind emotional impulsiv und können nicht abwarten.

Erst in den 90er Jahren wuchs zunehmend das Bewusstsein dafür, dass ADHS keine Störung des Kindesalters ist, sondern ein Leben lang fortbesteht, auch wenn die „Hyperaktivität“, also die deutliche äußere motorische Unruhe, in der Pubertät zurück geht. Im Kern bleibt die ADHS-typische Problematik, wie Dr. Russel Barkley sie beschreibt, bestehen.

So hat sich Metylphenidat auch im Erwachsenenalter als Medikament der Wahl etabliert. Die Diagnostik bei Erwachsenen bewies sich wegen hinzugekommener komorbiden Störungen häufig als schwierig, da die eigentliche Symptomatik des ADHS durch die komorbiden Störungen maskiert wird. Nachdem Metylphenidat lange Zeit off-label verordnet wurde, erhielt Medikinet adult 2011 die Zulassung in Deutschland zur Behandlung Erwachsener Menschen mit ADHS.

Die kontroverse Diskussion um ADHS hält jedoch leider unverändert an. Daneben ist ADHS aber längst als Grundlage für einen „Markt“ entdeckt worden: immer wieder “neue” oder “andere” Therapiemethoden, Therapiekonzepte sowie Mittel, die Heilung oder Linderung versprechen, erscheinen und sollen vermarktet werden.
Unter den Gesichtspunkten Kosten, Nutzen, Reproduzierbarkeit und Alltagstauglichkeit bleiben aber letztendlich die medikamentöse Behandlung, Elterntraining, Elternberatung und eine ADHS-spezifische Therapie als wirksame Mittel übrig.

Es bleibt spannend: Auch in Zukunft werde neue und bessere Untersuchungsmethoden immer mehr Aufschluss geben über die Funktionsweise von ADHS, sowohl auf neurobiologischer Ebene als auch im funktionellen Verstehen der Menschen mit ADHS.

In krassem Gegensatz dazu erscheinen immer wieder Artikel, die alle wissenschaftlichen Untersuchungen ignorieren bzw. leugnen und mit Propagandaparolen auftrumpfen wie: „Pillen statt Erziehung“, eine „Pille gegen eine erfundene Krankheit“, so seien „90 % der ADHS-Diagnosen falsch“, ADHS sei eine „fabrizierte Erkrankung“ Metylphenidat sei ein „Goldesel für die Pharmaindustrie“ und „macht psychisch abhängig“, denn wenn „Paul die Tablette vergisst, kommt er von der dritten Stunde an nicht mehr mit.“ Vermutlich genauso wie Insulin psychisch abhängig macht, denn ohne Insulin trübt ein Diabetiker zunehmend ein, kommt also auch nicht mehr mit.

Diese Kampagnen sind ein Schlag ins Gesicht all jener Eltern, die dringend Hilfe für sich und ihr Kind suchen, und für diejenigen, die sich um Hilfe und Perspektiven für betroffene Menschen bemühen.

Aufgabe der Elternverbände und Selbsthilfegruppen bleibt somit weiterhin die Beratung und Begleitung betroffener Menschen, Aufklärung über das Krankheitsbild, Verständnis für betroffene Familien zu wecken, Forderungen an die Politik zu stellen, den Menschen mit ADHS und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, sie nicht einfach zu „verbürokratisieren“ oder als Menschen mit einer „erfundenen Krankheit“ zu stigmatisieren. Vor allem bleibt die Aufgabe, entgegen des Mainstream, die Diskussion über ADHS von einer ideologischen Diskussion auf eine sachliche und wissenschaftlich fundierte Ebene zu bringen. Es gibt immer noch viel zu tun.

Peter Hackethal

_______________

Quellen:

Cordula Neuhaus: Das hyperaktive Kind und seine Probleme
Cordula Neuhaus: ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen

J. Krause, K.-H. Krause: ADHS im Erwachsenenalter

Dr. Russel Barkley: Taking Charge of ADHD

Dr. Russel Barkley: Gyrus Cinguli in Youtube

Wikipedia: History of ADHD

Der Spiegel 6/2012

Frankfurter Allgemeine vom 16.02.12

Dtsch. Ärztebl. 2004